Bayerischer Rundfunk, CD-Tipp 17.02.2010

 

Nikolaus Brass songlines

Von Meret Forster

 

Lange galt Nikolaus Brass als ein Außenseiter der aktuellen Musikszene, als einer, der als Komponist und Mediziner seinen ganz eigenen Weg geht und nur gelegentlich mit seiner Musik aufhorchen ließ. Das hat sich in letzter Zeit grundsätzlich geändert. Brass, der 1949 in Lindau geboren wurde und seit vielen Jahren im Münchner Raum lebt und arbeitet, erfährt derzeit über die Zirkel der Neuen Musik hinaus große überregionale Aufmerksamkeit. Beim Label NEOS ist nun eine CD mit seinem "songlines"-Zyklus erschienen, einer Reihe von Solo- bzw. Duostücken für Streicher aus den Jahren 2006/07.

 

Sein Komponieren, dem Nikolaus Brass in unbeirrbarer Kontinuität neben seinem Brotberuf als Arzt und Redakteur einer medizinischen Fachzeitschrift nachgeht, entspringt einer inneren Notwendigkeit abseits diverser Schulen und ästhetischer Schubladen. Erst relativ spät, mit Anfang dreißig, gibt Brass eigene Werke frei. Mittlerweile liegt ein vielseitiges Oeuvre vor, das Stücke für große Besetzungen ebenso einschließt wie Kammermusik in unterschiedlichen Formationen. Charakteristisch für seine Musik sind fließende Zeitprozesse, Fragen von Ordnung und Störung, das unprätenziöse Abtasten der akustischen Außenfläche nach dem, was sie als Widerhall in sich birgt sowie Aspekte der menschlichen Existenz, deren Fähigkeit des Erinnerns und Vergessens, dem permanenten Kreisen von Verlieren und Wiederfinden. Obwohl Brass eine stille Persönlichkeit ist und nie viel Aufheben um sich und sein Werk gemacht hat, meldet er sich doch sehr reflektiert zu Wort, wenn es um die Relevanz von Gegenwartsmusik geht oder um den Stand des Komponierens.

 

Unsichtbare, mythische Landkarte

Der Titel seines Zyklus "songlines" bezieht sich auf Bruce Chatwins Roman "The Songlines" (deutsch: "Traumpfade"), der eine Reise durch das Innere Australiens beschreibt und zentral um die Songlines der Aborigines kreist. Dabei handelt es sich um eine Art unsichtbare, mythische Landkarte Australiens, die per Gesang von Generation zu Generation weitergetragen wird und Grundlage der Wanderungen der Urbevölkerung ist. Brass geht es in seiner Musik jedoch nicht um konkret programmmusikalisches Erzählen dieser Geschichten, vielmehr um ein "inneres Singen", das für ihn essentiell für das bewusste Wahrnehmen und Verarbeiten von Musik ist. Gerahmt wird der Zyklus von einem kurzen Prolog für Viola solo und einem Epilog für Kontrabass.

 

Enorm facettenreiche Klangreise

Sechs unterschiedlich lange Solo- und Duostücke (auf der CD fehlen - bedingt durch die Gesamtlänge - "songlines" II und VI) stehen dazwischen und spüren in wechselnden Stimmen unglaublich farben- und phantasiereich dem Klangspektrum und "Singen" der jeweiligen Instrumente nach. Wie oftmals bei Brass sind die Partien jeweils frei notiert und überlassen den Musikern gestische Freiheit beim Gestalten ihrer Linien bzw. Singstimmen. Mit Frank Reinecke (Kontrabass) und dem norwegischen Geiger Helge Slaatto, denen "songlines" gewidmet sind, sowie Klaus-Peter Werani (Viola) und Erik Borgir (Violoncello) erkunden äußerst sensibel und gleichzeitig virtuos mit der Musik von Brass bereits vertraute Interpreten diese Stückreihe. Kurze, sehr persönliche Booklet-Notizen dieser vier Musiker skizzieren, wie sie diese Musik erleben: als Fanfare, als reißenden Strom, als eine Ausfahrt auf See, in unbekannte Weiten. Ohne dass Brass viel "macht", führt so seine Musik auf eine fein durchgestaltete, enorm facettenreiche Klangreise ... Unbedingt hörenswert!