Wolfgang von Schweinitz
Plainsound Glissando Modulation
NEOS 10812
www.Klassik.com 28.11.2009
Musik aus einem Paralleluniversum
Das System der temperierten Stimmung ist diktatorischer, als man vielleicht denkt. Zweifelsohne eine geniale Idee, hat es doch die Möglichkeit anderer Systeme in der abendländischen Kunstmusik zurückgedrängt oder verhindert. Gegen Halb- und Ganztonschritt ist schwer anzukommen, das mussten nicht nur die Viertelton-Experimentatoren erkennen. Der deutsche Komponist Wolfgang von Schweinitz (geb. 1953) ließ sich davon nicht abschrecken; er hat sich in seinem Schaffen intensiv mit der reinen Stimmung auseinandergesetzt und arbeitet mit Mikrointervallen und Obertönen. Das alles schafft eine Klangsprache, die gleichzeitig in der Tradition wurzelt und erfrischend anders, unverbraucht klingt.
Violine und Kontrabass
'Plainsound Glissando Modulation’ nennt der Komponist sein 2006/07 komponiertes op. 49 – ein ‚Raga in reiner Stimmung’ für die ungewöhnliche Besetzung von Violine und Kontrabass. Sechs ‚Regionen’ werden dabei berührt – 70 Minuten lang. Das fordert vom Hörer, sich auf die Musik einzulassen – es ist aber erstaunlich, wie gering die Abnutzung der Klänge ausfällt und dass sich keine Ermüdungserscheinungen einstellen. Phasenweise mag man sich an die Vokalpolyphonie der Renaissance erinnert fühlen – oft wirkt die Musik zugleich eigenartig vertraut und doch fremd, fast so, als klänge sie aus einem Paralleluniversum zu uns herüber. Manches ist rau und schroff, anderes von bestechender Rein- und Schönheit. Der Komponist webt ein feines Geflecht fragiler Klänge, das steter Veränderung unterworfen zu sein scheint – eine schillernde Oberfläche, an deren Farbspiel man sich kaum satt sehen kann. Obwohl sehr viel mit Zahlen hantiert wird (eine Kostprobe aus dem Booklet: ‚Erhöhungen und Erniedrigungen um undezimale Vierteltöne der 11-er-Relation, tridezimale Dritteltöne oder Siebzehner-Schismata’), ist das Resultat weit davon entfernt, ein artifizielles Konstrukt zu sein – es ist Musik, die ihren Zauber nur klingend entfaltet.
Eingetaucht
Wolfgang von Schweinitz verlangt nicht nur vom Hörer, sich auf seine Musik einzulassen. Viel mehr ist das sogar noch für die beiden Interpreten nötig, die sich nicht nur bloß öffnen müssen, sondern geradezu eintauchen müssen. Denn es gilt, ungewohnte Spieltechniken und Griffe mühsam zu erarbeiten. Die technischen Schwierigkeiten sind immens; insbesondere lässt sich das wohl für den Kontrabassisten sagen, dem beispielsweise Flageolette in höchsten Lagen abverlangt werden. Frank Reinecke gibt in seinen ‚Werkstattnotizen’ einen lebendigen Eindruck von den Schwierigkeiten. Zusammen mit dem Geiger Helge Slaatto hat er die ihnen gewidmete Partitur gründlich verinnerlicht und schließlich gemeistert. Das hört man mit jedem Ton – denn so schwierig die Klänge auch erzeugt worden sein mögen, das Resultat klingt herrlich schwerelos und wie natürlich gewachsen.
Referenzklasse
Die Mitte 2008 vorgenommene Einspielung, die vom Label Neos als Weltersteinspielung beworben wird, hat wegen der herausragenden technischen wie interpretatorischen Leistung der Widmungsträger zweifelsohne Referenzklasseniveau und wird wegen der enormen Schwierigkeiten an die Interpreten wohl auch auf längere Sicht die einzige Einspielung bleiben. Sehr gut ist die Klangqualität – hier bleiben keine Wünsche offen. Auch das gesamte Drumherum gefällt – angefangen vom aufgeräumten Layout bis hin zum Abdruck einer autographen Notenseite des Komponisten. Die vielen Streichungen und Ergänzungen geben einen lebhaften Eindruck von der Schwierigkeit, die auch der Komponist bei der Zähmung des Materials hatte; von Interpretenseite sind die erwähnten ‚Werkstattnotizen’ aufschlussreich. Alle Texte liegen übrigens in vier Sprachen vor. Im Internet ist übrigens ein Stück als Partitur verfügbar – hier kann man sich direkt am Objekt eingehender mit der ungewohnten Notation und ihrer Fülle von Versetzungszeichen beschäftigen; im Booklet kommt dieser notationstechnische Aspekt naturgemäß etwas kurz.
Christian Vitalis
Danmarks Radio, Oktober 2009
Skrevet af: Max Fage-Pedersen
Musikalsk råstof
Wolfgang von Schweinitz: 'Plainsound Glissando Modulation'
Der er ur-musikalske elementer i spil på denne nye cd. Med rødderne nede og suge kraft i den allerførste musik, tager Helge Slaato og Frank Reinicke dig med på en meditativ rejse i et snurrende strygerland.
Undertitlen på Wolfgang von Schweinitz' musik er 'raga i ren stemning'. Den rene stemning giver en særlig skala, hvor forholdet mellem tonerne kan udtrykkes ved hele tal (1, 2, 3, 4, osv.). Det har andre komponister også leget med, og resultatet er som regel en særlig snurrende lyd, og en varme i tonerne, som kan være utrolig behagelig.
Det lyder også som om de to musikere, Helge Slaato og Frank Reinicke, har det behageligt med Schweinitz' musik. Sammen fremkalder de en intens, meditativ stemning, der virkelig fastholder lytteren.
Som en klokkestreng
Det er som en klokkestreng, der bliver spændt ud, efter at man har trykket 'play'. Man dirrer lige så stille ind mod sit eget indre center, og begynder automatisk at svinge med, i en fantastisk strygerverden af overtoner og harmoniske klange.
Wolfgang von Schweinitz er født i Hamburg, hvor han også har studeret hos den ungarske komponist György Ligeti. Han har også været en tur forbi opfinderen af den moderne synthesizer, John Chowning.
Nu opholder han sig i USA, på kanten af Mojave-ørkenen, når han altså ikke er i Tyskland. Efter førsteopførelsen af 'Plainsound Glissando Modulation' i USA (en opførelse, som foregik i Walt Disney Concert Hall i Los Angeles), skrev en anmelder, at koncertsalen var badet i et sonisk extravaganza(!).
Hypnotiserende musik uden retning
De to musikere bliver rost for deres superbe talent, og for en hypnotiserende musik. Det er en musik, der ikke har retning, men som udvikler sig utrolig meget på stedet. Den nærmest udvidder lytterens bevidsthed, og egner sig uden tvivl godt til lukkede øjne og lotus-stilling (hvis man behersker den slags).
'Plainsound Glissando Modulation' er inddelt i 'regioner' på cd'en. Ideen er, efter sigende, at der er tale om forskellige regioner på de to strengeinstrumenter. Men den overordnede musikalske ide er og bliver den samme: En musik der har godt fat i nuet og i rødderne.
I region 2 bliver det nærmest magisk sitrende, og i region 3 blafrer melodier afsted i de øverste luftlag. Man får ikke hold på dem, men det gør heller ingenting. Det er kun med til at tune sindet ind, når øret leder efter holdepunkter. Før man ved af det, er man fanget ind af det raga-spind som de to musikere udspænder.
Bayerischer Rundfunk
CD-Tipp 03.06.2009
Wolfgang von Schweinitz
Plainsound Glissando Modulation
Wer neugierig auf wahrhaft neue Musik ist und einem ungeahnten und ganz individuellen Hörerlebnis begegnen will, wird beglückt mit einer neuen Komposition des deutschen Komponisten Wolfgang von Schweinitz: gut siebzig Minuten für Violine und Kontrabass, untergliedert in sechs Teile (Ragas), hat er mit seiner "Plainsound Glissando Modulation" vorgelegt, die auf dieser CD von Helge Slaatto (Violine) und Frank Reinecke (Kontrabass) in grandioser Weise zum Klingen gebracht wird.
Der 1953 in Hamburg geborene Wolfgang von Schweinitz fand seine unverwechselbare kompositorische Handschrift über Studien in Deutschland und in den USA, eckte in dogmatischen Avantgardezirkeln in den 1970er Jahren durch seine Auseinandersetzung mit Tonalität und traditionellen Formen an und lehnte in seiner Arbeit serielle Kompositionsprinzipien durchweg ab. Seit etwa Mitte der 1990er Jahre kehrte von Schweinitz - angeregt durch die Beschäftigung mit Musik von La Monte Young, James Tenney oder Harry Partch - der gleichstufig temperierten Stimmung den Rücken, veränderte seinen Kompositionsstil grundlegend und widmet sich seither intensiv Obertonphänomenen und reinen Stimmungen. Klänge und Klangverläufe, die aus den natürlichen Schwingungsverhältnissen der Obertonreihe gewonnen und deshalb vom Komponisten als "tonal" bezeichnet werden, stehen im Zentrum. Gemeinsam mit dem Geiger und Komponisten Marc Sabat entwickelte er für diese Musik, die den Interpreten äußerst komplexe Spieltechniken abverlangt, sogar eine eigene Notation, die "Extended Helmholtz-Ellis JI Pitch Notation".
Feinste Mikrointervalle
Auch die "Plainsound Glissando Modulation" für Violine und Kontrabass (2006/07) ist so auf zwei mal zwei, also vier Systemen, notiert. 33 verschiedene Vorzeichenvarianten und ihre Kombinationen sind im Einsatz und fordern von den Interpreten feinste Mikrointervalle und äußerst differenzierte Differenztonklänge. Beide Instrumente beginnen mit dem Klang ihrer leeren G-Saiten und erschließen sich in den sechs Teilen sukzessive von sechs Grundpositionen ausgehend und quasi glissandierend verschiedene Tonhöhenregionen. Der Kontrabass gibt dabei gewissermaßen das Fundament vor: Die sechs "Regionen" des Stückes entsprechen den sechs Grundpositionen, die der Kontrabassist nacheinander mit seiner linken Hand greifen muss, um alle spielbaren Töne auf seinem Instrument zum Klingen zu bringen, alle natürlichen Flageolette und mikrotonal unterscheidbaren, also stimmbaren Tonstufen. Die Violine reiht sich mit ihrem farbenreichen Spektrum in das so sich stets wandelnde harmonische Gefüge ein.
Sogartige Wirkung
Was das Interpretenduo Slaatto-Reinecke hier an filigranen, differenziert schwebenden, stellenweise fast tänzerischen Klanggeweben ausbreitet, ist schlicht so virtuos, dass man die Mühsal der intensiven Annäherung an diese so andere und eigene Musikwelt, das über drei Jahre sich erstreckende Treffen mit dem Komponisten, das Probieren und Austauschen, nicht im geringsten erahnen kann. Erlebbar ist alt vertrautes (Ton)Material in neuem, ja überraschend unverbrauchtem Gewand. Zusammenklänge von sogartiger Wirkung.
Meret Forster
Los Angeles Times 25.01.2009
Review: A Wolfgang von Schweinitz work mesmerizes at REDCAT
In the fall of 2007 and without fanfare, CalArts installed a German composer little known in American in the Roy E. Disney Family Chair in Music Composition. This is one of the most prominent American academic American posts for a composer of experimental bent.
For a year and a half there was hardly a peep from Wolfgang von Schweinitz in the public sphere. You certainly would not have known from the much-publicized Los Angeles Philharmonic announcement last week of its major festival of California music next season that perhaps the leading European figure to have embraced microtonality and other aspects of the West Coast scene is now in our midst.
But Saturday night at REDCAT there was, finally, a peep - and very big peep at that. A superb Norwegian violinist, Helge Slaatto, and an equally superb German double bass player, Frank Reinecke, gave the U.S debut of Von Schweinitz’ “Plainsound Glissando Modulation.” The subtitle is “Raga in Just Intonation.” It lasts 80 minutes. It explores a wondrous sonic universe. It is mesmeric music.
But boy, could Von Schweinitz use some kind of publicist-publisher-handler if he hopes to make an impact on these shores. Nothing about this program looked particularly promising, nor did it begin well. The piece’s title sounds like the results of a 1950s German electronic sound lab project. Von Schweinitz’s program notes - a series of old questions about the nature of microtonal music - were of no help to the listener.
Onstage, the performers introduced the music by revealing the healthful aspects of exploring pitch intervals made up of tones that fit between the cracks of the piano and are based on the natural harmonics of string tones. Such thinking is new to them, perhaps, but is as integral to West Coast music as local produce is to Alice Waters' cooking.
To open the program, cellist Erika Duke-Kirkpatrick played the U.S. premiere of Von Schweinitz’s “Plainsound Litany,” a series of microtonal intervals, one after the other. The cellist made beautiful sounds, but the 16-minute work seemed little more than an exploratory worksheet for “Plainsound Glissando Modulation.”
Exactly what goes on in the latter, which was completed in 2007, is a mystery to me. There was nothing especially raga-like and no indication whether the performers were improvising (they didn’t seem to be). Von Schweinitz has been called a neo-medieval avant-gardist, which this work sort of is, and he has been accused in the German press of being a neo-Romantic, which he hardly is although he does have a flair for creating rich swaths of string sound. And REDCAT was certainly bathed in continuous sonic extravagance Saturday.
The so-called raga was in six regions, three played before intermission and three after. By regions, Von Schweinitz means regions on the violin and double-bass finger boards. The players keep their fingers put for long sections, yet through overtones and interesting bowing techniques create, within each region. an exciting full range of pitches from high to low.
The score begins with drones of odd-tuned intervals that are like windows of pitch that open up ever more widely to let in an alternative harmonic universe. At no point during these 80 minutes did I know where I was in the music or have any notion of what would come next. With eyes closed it could even be impossible to tell which instrument was playing what.
High harmonics swirled around the room as hints of melodies seemed to come out and float back into the atmosphere like ghosts. Occasionally, Von Schweinitz had the players produce pizzicato attacks for variety, but mainly they sawed and sawed exquisitely in perfect, if exceedingly odd, intonation.
Others have explored these realms, notably these days Terry Riley and LaMonte Young, and Von Schweinitz has paid homage to them in earlier compositions. But he brings his own German flair to the microtonal table, one that finds roots in medieval music written before the modern tempered scale. He then sexes up the old with string playing from the Romantic virtuoso tradition to which he adds a dose of Stockhausen’s outer-space sound spectrum. All and all, this is heady, engrossing stuff and deserves much wider exposure. The REDCAT crowd tuned in immediately and sat in a remarkable silence throughout.
A recording of “Plainsound Glissando Modulation” by the Slaatto/Reinecke duo is supposed to be released soon on Neos. The Munich-based label puts out great-sounding and imaginative CDs but has inadequate U.S. distribution. Somehow that’s seems sadly appropriate.
Mark Swed
Musiktexte, August 2008
"... neben der Beweisführung geht eine Bezauberung mit ..."
Zur Hamburger Uraufführung des "Plainsound Raga" von Wolfgang von Schweinitz
Von Manfred Karallus
Es geschieht ja nicht alle Tage, dass wie jüngst am 7. Juni in Hamburg zwei Musiker, ein Geiger und ein Kontrabassist, nach siebzig Minuten schwierigsten, kompliziertesten, anspruchsvollsten Musizierens von einem recht bunt gemischten Publikum aus jüngeren und älteren, bürgerlichen und alternativen, kulturkonservativen und kritischen Zuhörern mit Blumen und Bravi überschüttet werden, das Beifallsgejohl nicht abreissen will und die beiden Akteure zusammen mit dem Komponisten sieben-, achtmal zur Verbeugung gebeten werden. Helge Slaatto, seit 1992 Professor für Violine an der Hochschule für Musik Detmold/Münster, und Frank Reinecke, Kontrabassist beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, bedankten sich, vom Werk und seiner Wiedergabe sichtlich erschöpft und ergriffen. Als Duo-Partner hätten sie, so erklärten sie noch tags zuvor bei einem Workshop zur Einführung in das Werk, wohl manch Neues aufgeführt – es fielen dabei Namen wie Scelsi und Xenakis – und hätten überdies selber einiges in Auftrag gegeben und uraufgeführt. Nie jedoch seien sie von einer zeitgenössischen Musik derart in den Bann gezogen worden wie von dieser.
Dem Titel nach als Plainsound Glissando Modulation ausgegeben, bezeichnet sich das Opus 49 von Wolfgang von Scheinitz im Untertitel als Raga in reiner Stimmung. Es entstand in den Jahren 2006 und 2007 in Berlin, unmittelbar vor Schweinitz' Berufung nach Kalifornien, wo er im Herbst 2007 am California Institute of the Arts die Nachfolge des 2006 verstorbenen James Tenney antrat. In diesen ereignisreichen Monaten überschlugen und überschnitten sich die Ereignisse. Schweinitz schrieb in dieser Zeitschrift [1] einen den Komponisten Tenney brillant porträtierenden Artikel, während in seinem Berliner Arbeitszimmer ein von irgendwo herbeigeschaffter Kontrabass noch geduldig darauf wartete, letzte Plainsound-Dienste zu tun: Flageolette zu produzieren, seltene Teiltonverhältnisse und mikrotonale Intervallkonstellationen hörbar zu machen, neue Klänge, neue Klangverbindungen, neue Musik auf den Weg zu bringen.
Und dies war nun das Erste, das dem Teilnehmer am Workshop, das dem Konzert vorausging, auffiel: Das verwendete musikalische Material ist bis ins letzte Detail gründlich ausrecherchiert. Die Gründlichkeit erscheint dabei aber nicht als Folge, sondern Voraussetzung des Konzepts. Oder sie geht als conditio sine qua non mit ihr einher. Und lässt sich konzeptuelle Gründlichkeit selbst in Tenneys berühmten zehn Postkarten-Stücken 'hören', so hört man sie auch hier. Und man sieht sie. Im Zeitrafferverfahren gefilmt und auf einer Bildfläche wiedergegeben, sähe der Zuschauer inmitten allen Gewusels eine stetig zur Griffbrettmitte des Kontrabasses (und damit zu den einfacheren, niedrigzahligen Teiltönen hin) gleitende Griffhand. Er sähe ein über siebzig Minuten gestrecktes Plainsound-Glissando.
Das Stück beginnt am Sattel, dicht an der Oberkante des Griffbretts, mit dem 21. Oberton über der G-Saite des Kontrabasses und endet – in vielfältigster Weise elaboriert, intensiviert, ornamentiert, dazu vom Violinpart kontrapunktisch gestützt und umspielt – in der Region des einfachen Oktavflageoletts. Man erlebt Komponieren als einen dem Naturwissenschaftlichen anverwandten Akt des Suchens, Forschens, Recherchierens, "voll durchdacht und mathematisch formuliert, musikalisch ausprobiert" (Schweinitz über Tenney heißt hier auch Schweinitz über Schweinitz).
Mikrotonalität ist im Komponistenmetier zu einem modernen Schlagwort geworden. Genau gesehen jedoch gibt es den Mikroton nicht, sondern nur mikrotonale Tonrelationen, Intervalle, deren erstes, das berühmte pythagoreische Komma, freilich schon den alten Griechen bekannt war. Dieses winzige Überschussintervall, Ausdruck einer in der Akustik, der physikalischen Natur des Klangs angelegten Unschärferelation, in der sich ein Un-eins-Sein der menschlichen Wahrnehmung mit der natur-physikalischen Wirklichkeit ausdrückt, ist indes zum festen Bestandteil der heutigen klingenden Lebenswirklichkeit geworden. Wann und wo Musik gemacht oder gehört wird, ist es gegenwärtig. Fein verteilt auf die fünf, sechs oder sieben Oktaven jedes modernen Keyboard-Instruments, treibt es wie die Feinverteilung einer Naturlast sein Unwesen. Mit Freude berichtete mir Schweinitz, wie ihm just zwei Streich-Instrumentalisten (und nicht etwa zwei Pianisten) den Auftrag zur Komposition seines Plainsound Raga erteilt hätten, er somit in der glücklichen Lage gewesen wäre, seine Untersuchungen im Bereich der Mikrotonalität am geeigeneten Material und an dafür geeigneten Instrumenten umzusetzen.
Hat der Geist der Natur seine Geschichte, dann wird die Geschichte der Natur hier zum Geist der Musik. Mit ähnlicher Intensität wie im Bereich des physikalisch-akustischen Tonraums fragt und forscht Schweinitz nach den historischen Gründen, dem Woher und Wohin, dem quid pro quo jener diversen 'Stimmungswandel', die die musikalische Geschichte über die letzten vierhundert Jahre zu verzeichnen hatte: von Gioseffo Zarlino, dem bedeutenden Musiktheoretiker der Renaissance, über Hermann von Helmholtz, den Physiker und Physiologen des neunzehnten Jahrhunderts, dann den Komponisten Arnold Schönberg, der in seiner Harmonielehre von 1911 die Temperierung bereits hellsichtig als Kompromissproblem ausgemacht und als "einen auf eine bestimmte Frist geschlossenen Waffenstillstand" bezeichnet hat, bis zu György Ligeti, zu dessen ersten Hamburger Schülern Wolfgang von Schweinitz zählte und mit dessen Anstiftung zu einer, wie er sie nannte, "mikrotonalen Konspiration", Ligeti der mikrotonalen Bewegung später die wohl entscheidenden ersten Impulse gab – Impulse, die der Schüler dann aufgriff, mit den inzwischen in Amerika erworbenen Erfahrungen im Bereich der akustischen Forschung verschmolz und zu bisher zwei gewichtigen Kompositionen umgesetzt hat: einer Plainsound Symphony (in München mit bemerkenswertem Erfolg aufgeführt), einer Kantate auf einen Liebesbrieftext von Friederike Mayröcker (mit Mayröcker selbst als Sprecherin), dazu einer anrührenden Miniatur für zwei Violinen und hohe Sopransingstimme auf die letzten geschriebenen Worte Friedrich Hölderlins: des Himmel Höhe glänzet.
Vor diesem Hintergrund der sich aus näherem und fernerem, praktischem und theoretischem Vorwissen gespeisten Daten – so Speziellem wie den in Cent gemessenen Intervalldistanzen; der hier zur Anwendung gekommenen erweiterten Helmholtz-Ellis-Notation mit 28 neuen Vorzeichen; der Bezüge zum indischen Raga; dem fundamentalen Unterschied zwischen dieser Art von Mikrotonalität und derjenigen temperierten Mikrotonalität eines Alois Hába oder Nikolaj Roslawetz – vor diesem Hintergrund lässt sich über das reale Werk und seine reale Wirkung nun freilich nicht mehr ganz so nüchtern reden. Man begab sich von der Musikhochschule ins Rudolf-Steiner-Haus am Mittelweg und hörte im Rahmen der Veranstaltungsreihe Zeit-Zeichen den Plainsound Raga als künstlerisches Ganzes. Zwei gestandene Musiker, die sich und den Hörern über die Schwierigkeiten dieser neuen Musik nichts vormachten, vollbrachten das Wunderbare: Es war vom Schweiß der Erfindung, von der Mühsal der Ausarbeitung, von den Strapazen drei Jahre langen Sich-Treffens und Probens und Faxens und Telefonierens nicht das Geringste mehr zu spüren. Selten hat man zwei Musiker so überzeugt, so euphorisch hingebungsvoll bei der Sache erlebt wie an diesem Abend Helge Slaatto und Frank Reinecke. Ein hochgespannter Seilakt, in jedem Augenblick der Gefahr des Stolperns und Abstürzens ausgesetzt. Ein frisches, neues und im Grunde zugleich sehr altes, vertrautes Material, ein den Menschen und Völkern der Welt offenbar eingeschriebenes Klanginventar natürlicher, naturgegebener Töne und Tonbeziehungen. Ein befreiendes Innewerden einer von den Fesseln der Temperierung befreiten Tonalität. Ein himmelshoher, zehrender, in immer neuen Anläufen hell aufblühender Hölderlinscher Ton, mal feingesponnen den Zauber der neuen Sonoritäten zelebrierend, mal wieder wie zum Ausklang, gleichsam aus weiter Ferne, im Zeichen irdisch-festerer, festlicherer Gestalten. Ländlerhaft tänzelte das Werk seinem Ende zu.
Es gibt viele Gründe zu der Annahme, an diesem Abend eines der bedeutendsten Werke der heutigen mittleren Komponistengeneration erlebt zu haben. Der Plainsound Raga von Wolfgang von Schweinitz wurde im Anschluss an das Konzert in München vom Bayerischen Rundfunk (Redaktion: Helmut Rohm) eingespielt und erscheint voraussichtlich noch in diesem Jahr bei Neos auf CD.
[1] Wolfgang von Schweinitz, "Koan": James Tenney sagte schon, MusikTexte 112, Februar 2007
Bayerischer Rundfunk
CD-Tipp vom 28.2.2006
Street Music
Werke von Tüür, Stahnke, Sanri, Richter de Vroe, Kulenty, Heisig und Bräm
Duo Slaatto Reinecke
Helge Slaatto, Violine
Frank Reinecke, Kontrabass
Ambitus Amb 96 882
Eine einzelne Violine im Duett mit einem Kontrabass, das höchste mit dem tiefsten unserer Streichinstrumente? Die höchste Saite des tiefen klingt leer gespielt eine Oktave tiefer als die tiefste des hohen! Das kann doch nicht harmonieren, da fehlt doch der klangliche Kitt! So könnte man vermuten - allerdings nur, solange man das Duo Slaatto Reinecke noch nicht gehört hat. Bereits 1987 haben der aus Dänemark stammende Geiger Helge Slaatto und der Kontrabassist Frank Reinecke erstmals ein Stück zusammen gespielt, und schnell entdeckten sie, welche virtuosen und sonoristischen Möglichkeiten diese ungewohnte Besetzung bot. Sie begannen zu experimentieren und entwickelten einen neuen Stil. Alsbald fanden namhafte Komponisten Gefallen an der speziellen Herausforderung, für diese beiden Musiker der Extraklasse ein Stück zu schreiben, und mittlerweile ist ein eigenes, kleines aber feines Repertoire entstanden.
Dieser Tage nun legten Slaatto (seit 1993 Professor an der Musikhochschule Münster) und Reinecke (Kontrabassist im Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks) beim label ambitus ihre zweite CD vor. Nach einer Miniatur, die der Ligeti-Schüler Manfred Stahnke beigesteuert hat, trägt die Silberscheibe den Titel street music - und sie macht Lust auf mehr: mitreißende Musizierfreude, souveränes Können und Klangsensibilität finden da zusammen, Sinn für skurrilen Humor und ein waches Bewusstsein für die mannigfachen Formen tieferen Sinns. Nicolaus Richter der Vroe, Erkki-Sven Tüür und Thüring Bräm sind mit klangschönen und suggestiven Originalwerken vertreten, ebenso Erhan Sanri und Hanna Kulenty. Fünf der so genannten Nadeldruckchoräle des sächsischen Schrägdenkers Wolfgang Heisig - darunter die "Entropie von Hänschen klein" - runden oder biegen das Programm augenzwinkernd ab.
Helmut Rohm, Bayern 4 Klassik
www.klassik-heute.de 29.11.2006
Ambitus amb 96 882
Street music
duo slaatto reinecke
Geige und Bassgeige sind keine irgendwie skurrile Duo-Kombination – es ist eine starke Konstellation, die die Persönlichkeit möglicher Komponisten mit einer geradezu magnetischen Intensität fordert, vergleichbar dem Zusammenspiel von Nordpol und Südpol. Die sieben hier versammelten Komponisten geben in ihren für das Duo Slaatto-Reinecke geschriebenen Werken durchschlagend und musikalisch sprechend Zeugnis von der elementaren Stofflichkeit und Direktheit der Instrumente, die gegensätzlicher nicht sein können und sich doch in ihrer Verankerung in Erde und Himmel die Hand reichen, wobei es, wie hier in einigen Augenblicken, auch zum kreativen Blitzschlag kommen kann. Etwa in Manfred Stahnkes Streetmusic II, einer quicklebendigen Trauermusik, die in ihren immer wieder melancholisch durchsetzten Beats zeigt, wie eine zeitnahe, gestisch und rhythmisch höchst persönliche Stilistik emotional, menschlich und modern im besten Sinne sein kann. Stahnkes Duo entstand zum Gedenken an die Hamburger Malerin Hadmut Oelke, deren Atelier auch ein musikalischer Ort war, wobei Stahnkes (Jg. 1951) Werk hier geradezu ein exemplarisches Beispiel dafür ist, dass in Hamburg eine andere Art „neuer“ Musik entwickelt wurde als in den bekannten mitteleuropäischen Zentren der musikalischen Avantgarde. Aber auch Nicolaus Richter de Vroe spricht hier eine so zeitnahe wie direkt eindringliche Sprache, dass stilistische Einordnungsversuche (wie etwa Postminimalismus) am Kern der Musik vorbeigehen. Erkki-Sven Tüürs (Jg. 1959) Klangzaubereien wiederum überzeugen in der Art und Weise, wie subtil vergeistigte Rockmusik-Gesten sich mit post-Ligeti-Streicher-Filigran kleiden, während die drei Duos Erhan Sanris (Jg. 1957) jeweils eigene Topographien der Violin-Kontrabass-Konstellation erschaffen, versehen mit comiquehaften Titeln wie Regenwurm quetscht sich durchs Nadelöhr. Hanna Kulentys (Jg. 1961) und Thüring Bräms (Jg. 1944) Duos sprechen in ihrer musikalischen Klarheit und lyrischen Expressivität unmittelbar an, während die gewiß originellen fünf Nadeldruckchoräle des Konzeptkünstlers Wolfgang Heisig (Jg. 1952) eher spaßige Zugaben mit einem gewissen Eintagsfliegen-Charakter sind. Aber wie dem auch sei, Helge Slaatto und Frank Reinecke spielen nicht nur hinreißend, sie haben mit der Anregung dieser Kompositionen auch Großes geleistet!
Hans-Christian v. Dadelsen (29.11.2006)
Künstlerische Qualität:10Bewertungsskala: 1-10
Klangqualität:10
Gesamteindruck:10
Das Orchester 07-08/2006, Seite 92
street music
Werke von Nicolaus Richter de Vroe, Manfred Stahnke, Erkki-Sven Tüür, Erhan Sanri, Hanna Kulenty, Thüring Bräm und Wolfgang Heisig
Die Besetzung hat zweifellos etwas Komisches: Bei einem Duo aus Geige und Kontrabass kommen einem unwillkürlich andere außermusikalische Gespanne in den Sinn wie Don Quijote und Sancho Pansa oder auch Laurel und Hardy. Doch wenn auch auf der CD mit dem Duo Slaatto-Reinecke das Groteske keineswegs ausgeklammert bleibt, so lauscht man doch verblüfft und mit zunehmender Begeisterung den aparten Klängen, die eine solch exotische Kombination hervorzubringen in der Lage ist.
Die beiden Musiker hatten sich Anfang der 80er Jahre in Montepulciano kennen gelernt. Da jedoch das Repertoire für diese Besetzung bekanntlich dünn gesät ist, war man auf Neukompositionen angewiesen. Im Laufe der Jahre entstanden so eigens für das Duo geschriebene Werke, von denen einige hier erstmals eingespielt sind. Herausgekommen ist eine bunte und nie langweilige Folge von stilistisch höchst unterschiedlichen Stücken – eine Fundgrube für Kammermusiker, die in ihren Programmen auch einmal die ausgetretenen Pfade verlassen wollen.
Der CD-Titel street music stammt von dem gleichnamigen Werk von Manfred Stahnke, das dem Andenken der 1994 verstorbenen bildenden Künstlerin Hadmut Oelke gewidmet ist, in deren Hamburger Atelier regelmäßig Konzerte mit Neuer Musik stattfanden. Stahnke vermischt dabei Elemente des Jazz und alter Musik in einem fremdartig konsonanten Stil. Von Jazz und Rockmusik sind auch zwei weitere längere Stücke beeinflusst: Symbiosis des estnischen Komponisten Erkki-Sven Tüür beginnt mit der kontrastierenden Gegenüberstellung von ruhigen, obertönigen und schnellen, repetitiven Strukturen und mündet in einen groovigen Hauptteil, dessen Wurzeln im Jazz-Rock liegen. Sehr eindrucksvoll ist auch Going Up 1 der Polin Hanna Kulenty, in dem sich aus einem insistierenden Bass-Ostinato quasi-improvisatorische und zum Teil mikrotonale Motive der Violine lösen.
Zwei ironische Miniaturen stammen von Nicolaus Richter de Vroe und Thüring Bräm. Während Richter de Vroe mit Innere Wiener Straße mit minimalistischen Stilmitteln das Porträt einer verkehrsreichen Münchner Straße liefert, bezieht sich Bräm in Aria auf die terzenselige alpine Folklore, die kräftige Verzerrungen erleiden muss.
Skurrilität in Verbindung mit sehr strengen Strukturen zeichnet die drei Stücke des Türken Erhan Sanri aus. Sonnenbrand hinter dem Rolladen, Regenwurm quetscht sich durchs Nadelöhr oder Gefühlsausbrüche heißen die Stücke, in denen das Duo zum Teil durch den Schlagzeuger Nicolai Slaatto erweitert wird und die mit wenig motivischem Material und in einfachen Formen die Titel plastisch werden lassen.
Die Fünf Nadeldruckchoräle von Wolfgang Heisig schließlich sind Beispiele einer amüsanten Konzeptkunst, die auch den vokalen Einsatz der Interpreten verlangt. Zu spärlicher instrumentaler Begleitung wird hier beispielsweise das Lied Hänschen klein dem Prozess einer musikalisch-sprachlichen Entropie unterzogen oder das Fundstück „Nicht hinauslehnen“ auf die in ihm verborgenen semantischen Möglichkeiten hin analysiert.
Klaus Angermann